Mehr als 50 Jahre lebte und arbeitete Siegfried
von Vegesack in „seinem Turm“ auf Weißenstein, genauer gesagt im ehemaligen
Getreidekasten der Burganlage. Er gab diesem Kasten seinen treffenden Namen – „Fressendes
Haus“ – und setzte den Menschen und der Landschaft des Bayerischen Waldes
mit seinem gleichtitelnden Roman ein literarisches Denkmal. Heute ist das „Fressende
Haus“ lebendiges Kulturzentrum und Museum.
Anlass genug, in diesem Rahmen den Spuren dieses
ungewöhnlichen Mannes nachzugehen und seinen Lebensweg zu verfolgen. Nur
noch ältere „Regener“ oder „Weißensteiner“ werden sich an den Mann aus dem
hohen Norden, unverkennbar mit seinem Monokel, erinnern, der im Bayerischen
Wald eine neue Heimat gefunden hatte, nach dem ihm eine Rückkehr in sein
geliebtes Livland versagt blieb.
Siegfried von Vegesack wurde am 20. März 1888
in Blumbergshof bei Riga in Livland als neuntes Kind des Ordnungsrichters
Otto Otthard von Vegesack und dessen Frau Janet Clementine (genannt Jenny)
von Campenhausen geboren. Er war also Balte aus der deutschstämmigen Oberschicht,
die sich von jeher dem Deutschen Reich zugehörig fühlte. Die jahrhundertealte
Kultur (Deutschordentum) hat ihn geprägt und der unrühmliche Untergang ihn
leiden lassen, als zunächst im 1. Weltkrieg des Baltikum durch Kriegstod,
aber auch durch Massenvernichtung hunterttausende Opfer zu beklagen hatte;
dann das Land 20 Jahre in bedrohter und bedrückender Freiheit verleben konnte
und schließlich 1939 durch den zwischen Hitler und Stalin geschlossene „Nichtangriffspakt“ an
die Sowjetunion ausgeliefert wurde. Schließlich beschloss man auf der alliierten
Außenministerkonferenz 1943 in Teheran das Baltikum (also Estland, Lettland
und Livland) Stalin zuzusprechen. Die folgenden Repressivmaßnahmen forderten
wieder unzählige Opfer.
Vegesacks Verdienst ist es, dass er sich zum
eindrucksvollen und feinfühligen Chronisten des Glanzes und Unterganges dieser
Kultur mit seiner Romantrilogie „Vorfahren und Nachkommen“, „Die Baltische
Tragödie“ und „Der letzte Akt“ gemacht hat. Diese Welt ließ ihn – trotz vielfachen
anderen Engagements – zeitlebens nicht mehr los; sie war sein ureigenster
Stoff.
Das Leben vor Weißenstein
Aber lassen wir nun Siegfried von
Vegesack selbst zu Wort kommen, wie er sein Leben bis zu seiner „Einkehr“ in Weißenstein
sah. Vermutlich 1932 beschrieb er in einer Kurzbiographie für die „Rigasche
Rundschau“ mit hintergründigem Humor seine frühen Jahre.
Auf dem väterlichen Gute Blumbergshof in Livland
als neuntes Kind meiner Eltern geboren, wollte ich mit zehn Jahren Missionär
werden. Ich las eifrig das Missionsblatt, Hosianna, lief in den Wald und
predigte laut (da keine Schwarzen vorhanden waren) den Tieren und Bäumen.
Später schoss ich ebenso eifrig Eichhörnchen, Hasen Rehe Füchse und zuletzt
sogar einen Elch. Machte das Abitur, ich gestehe es tief beschämt, mit silberner
Medaille, studierte (wenn man das so nennen darf) in Dorpat (ich weiß kaum
noch was), verlor das linke Auge auf der Mensur, machte mit dem andren Auge
das russische Staatsexamen, setzte das Studium in Heidelberg, Berlin und
München fort, und war gerade fertig, als der Krieg ausbrach.
Da der russische Staat keine einäugigen Soldaten
brauchte, konnte ich ungestört nach Schweden fahren, wo ich mit dreißig Rubeln
in der Tasche ankam, mir zwei goldene Trauringe kaufte und mich am nächsten
Tag in Stockholm trauen ließ. Ich arbeitete in der Redaktion einer schwedischen
Zeitung, dann in Berlin, nährte mich in der großen Zeit von Kohlrüben, Tee
und Zwieback, den man nach langem Anstehen gegen ärztliches Zeugnis bekam
und der aus Sägespänen hergestellt wurde. Als meine Beine blau wurden und
Adern platzten, floh ich mit meiner Frau und sechs Monate alter Tochter in
den Bayerischen Wald.
Hier fanden wir einen alten Raubritterturm mit
Spuk und Gespenstern, der seit Jahren leer stand, und deshalb für ein Butterbrot
zu haben war. Mit vierundsiebzig Bierseideln (die einzige Hinterlassenschaft
der alten Raubritter), sechs steinernen Kanonenkugeln und einem ungeheuren
runden Tisch richteten wir uns gemütlich ein. Dann kauften wir uns eine Ziege,
dann eine Kuh. Ich lernte das Mähen (zwei Sensen flogen dabei in Stücke),
meine Frau das Melken, wir aßen Pilze, Beeren, Brennnesseln und wurden gesund.“
Zur Erläuterung: Während seiner Münchener Jahre
(1912-1914) lernte er die schwedische Schriftstellerin Clara Nordström kennen,
die er am 16.2.1916 in Stockholm heiratete. Durch sie bekam er Kontakt mit
vielen jungen aufstrebenden Künstlern des berühmten Münchner Schwabing. So
schloss er Bekanntschaft und mit manchen auch eine lebenslange Freundschaft mit
Alfred Kubin, Rolf von Hoerschelmann, Max Unold, Joachim Ringelnatz, Erich
Mühsam u. a. Nach seiner Rückkehr 1916 nach Deutschland arbeitete Vegesack
gemeinsam mit anderen Exilbalten in der Pressestelle des Auswärtigen Amtes
in Berlin. Die ersten politischen Artikel und Gedichte erschienen. 1917 wurde
die Tochter Isabel geboren. Ein Jahr später aber verließ die Familie aus
den beschriebenen Gründen Berlin und übersiedelte in den Bayerischen Wald,
wo sie den leerstehenden heruntergekommenen Turm der Burgruine Weißenstein
billig erwarb.
Der Turm wurde Heimat
Den Turm,
eigentlich der frühere Getreidekasten
der Burg, verließ Vegesack nur noch für kleinere und größere Auslandsaufenthalte.
Man bewirtschaftete eine kleine Landwirtschaft zum Lebensunterhalt, in der
freien Zeit arbeiteten Clara und Siegfried von Vegesack an eigenen schriftstellerischen
Werken und übersetzten mehrere Jahre aus dem Russischen und dem Schwedischen.
1923 wurde ihnen der Sohn Gotthard geboren, der 1943 in Polen fiel. Die ersten
schriftstellerischen Erfolge stellten sich Ende der zwanziger Jahre ein.
Seine Tragödie „Tote Stadt“ wurde in Cottbus uraufgeführt und seine Komödie „Der
Mensch im Käfig“, in der Hauptrolle der glänzende Paul Hörbiger, mehrere
Wochen vor ausverkauftem Haus gespielt. Auch der Gedichtband „Die kleine
Welt vom Turm gesehen“ verkaufte sich gut.
1929 verließen die Vegesacks für drei Jahre
den Turm, den sie der Künstlervereinigung Porza verpachteten und zogen ins
Tessin, kehrten aber immer wieder sozusagen als Gäste in den Bayerischen
Wald zurück. Frucht dieses Tessiner Aufenthalts ist der Roman „Das fressende
Haus“, der die Zeit in Weißenstein zum Inhalt hat. Der Titel dieses Romans
gab dem Turm seinen bis heute gültigen Namen.
Die Ehe mit Clara Nordström scheiterte, 1935
wurde sie geschieden. Daraufhin machte Vegesack mehrere Auslandsreisen ins
heimatliche Baltikum, nach Südtirol, Jugoslawien und nach Südamerika, wo
er begeisterten Anklang fand. Diese fast zweijährige Südamerikareise fand
später auch ihren literarischen Niederschlag. Am 12.3.1933 wurde Siegfried
von Vegesack einige Tage in Regen von den neuen Machthabern, den Nationalsozialisten,
inhaftiert. Wie es dazu gekommen war, beschreibt er folgendermaßen:
Vegesack – ein kritischer Geist
Am 5. März 1933, einen Sonntag, kam eine Horde
von braunen Uniformen aus Regen nach Weißenstein herauf marschiert und hisste
auf dem Turm der Ruine eine große rote Fahne mit einem Hakenkreuz. Das ärgerte
mich. Ich telefonierte an die Landpolizei in Regen und veranlasste, dass
die Hakenkreuz-Fahne vom Turm herunter geholt wurde.
Am nächsten Sonntag, den 12. März, war aber diese
Fahne unsere Fahne geworden. Wieder kamen Horden von braunen Uniformen herauf,
wieder wurde die rote Hakenkreuz-Fahne auf dem Turm der Ruine gehisst. Unser
Haus wurde umstellt, braune Uniformen drangen bis zu mir in die Bibliothek,
und ich wurde verhaftet.
Dass ich am Sonntag zuvor die Hakenkreuz-Fahne
vom Turm der Ruine hatte entfernen lassen, war aber nur der Anlass zu meiner
Verhaftung. Als Mitglied der Paneuropäischen Union und der internationalen
Künstlervereinigung Porza war ich schon längst der Partei ein Dorn im Auge.
Aber auch dies nahm er mit dem ihm eigenen Humor
hin und so berichtet er später über diese Episode, seiner „Einkerkerung“:
„Der dicke Wachtmeister bat mich freundlich,
ihm zu folgen. Am liebsten hätte er mich wohl laufen lassen. Väterlich besorgt
um mich, ließ er die braune Horde vorausgehen und geleitete mich – sich immer
wieder entschuldigend – zum Gefängnis, das sich im Erdgeschoss des Amtsgerichts
befand. Hier wurde ich nicht wie ein Sträfling, sondern fast wie ein Ehrengast
aufgenommen. Jeden Morgen erkundigte sich der Gefängnisdirektor nach meinem
Befinden und entschuldigte sich händeringend, dass er mir nichts Besseres
zum Essen vorsetzen könne.
Ich tröstete ihn: es schmecke mir ausgezeichnet.
Nirgends habe ich so ungestört arbeiten können wie damals im Gefängnis von
Regen. Es war eine schöne Zeit, an die ich gern zurückdenke!“
In den Jahren 1933-1935 erschien in drei Teilen
seine „Baltische Tragödie“, der Mittelteil seiner großen Baltikumtrilogie.
1940 heiratete Vegesack Gabriele Ebermayer (genannt Jella); aus dieser Ehe
ging 1941 der Sohn Christoph hervor. Im gleichen Jahr meldete er sich freiwillig
als Dolmetscher in den Osten, jedoch nicht als Kriegsbegeisterter oder gar
Nazi-Anhänger, sondern wohl eher aus einem Solidaritätsgefühl heraus. Als
Sonderbotschafter berichtete er aus der Ukraine, Georgien, der Krim und aus
der alten Heimat, die er bei dieser Gelegenheit noch einmal – wenn auch bereits
vom Krieg gezeichnet – wiedersah. Anlässlich dieser Berichterstattertätigkeit
wurde Vegesack auch in das Geschehen des 20 Juli 1944 verwickelt. Die Hintergründe
und die Folgen für ihn beschreibt er später einmal so:
„Als Dolmetscher im Osten hatte ich mich anfangs
noch einigen Illusionen hingegeben. Doch mit der Zeit wurden meine Eindrücke
immer skeptischer. Im Frühjahr 1944 erhielt ich vom damaligen Chef des Wirtschafts-Stabes-Ost, General
Stapf, den Auftrag, auf Grund meiner Berichte und eines umfangreichen Materials
von Dokumenten, die mir zur Verfügung gestellt wurden, eine Denkschrift über
die „Behandlung der Bevölkerung“ in den von uns besetzten Gebieten zu schreiben,
und zwar so, wie ich die Dinge sehe, ohne jede Rücksicht auf höhere Dienststellen.
Einzelheiten dieser Denkschrift hatte ich mit Graf Peter Yorck von Warthenberg
besprochen, der bei uns im Stab tätig war.
Am 17. Juli 1944 lieferte ich meine Denkschrift
in Berlin ab. Schon am nächsten Tag empfing mich General Stapf mit den Worten „Wissen
Sie, war Sie da geschrieben haben? Eine furchtbare Anklage!“
Ich erklärte dem General, dass ich meine Denkschrift
so geschrieben hätte, wie es mir befohlen war: ohne jede Rücksicht, so wie
ich die Dinge sehe. Den 20. Juli erlebte ich in Berlin. Gleich darauf wurde
ich von General Stapf nach Weißenstein beurlaubt.
Erst später habe ich erfahren, dass General Stapf
mit Graf Yorck von Warthenberg zu den Verschwörern gehörte, und dass meine
Denkschrift gleich nach geglücktem Attentat veröffentlicht werden sollte.
Im letzten Augenblick, als General Stapf am 20. Juli sich in die Bendlerstraße
zu Graf Yorck begeben wollte, wurde er gewarnt, so dass er zu Hause blieb,
und meine Denkschrift nicht in die Hände der Gestapo gefallen ist. Später
bin ich zwar von der Gestapo in Regensburg verhört worden, aber man konnte
mir nichts nachweisen. Graf Peter Yorck wurde hingerichtet. Im Oktober 1944
nahm ich meinen Abschied.“ Die besagte Denkschrift erschien 1965.
Schwierige Nachkriegsjahre trotz großer Anerkennung
Die Nachkriegsjahre
galten dem Kampf, wie bei
den meisten anderen auch, um einfache Überleben, der Beschaffung von Kleidung,
Nahrung, Brennmaterial u. ä. Erschwert wurde die Situation dadurch, dass
Vegesack drei seiner Brüder, die geflohen waren, auf seinem Turm aufnahm.
Zudem waren die meisten seiner Bücher vergriffen und für Neuauflagen oder
Neuerscheinungen fehlte es den Verlagen, falls sie noch existierten, an
Papier oder an Lizenzen von den Besatzungsmächten. Aber wovon soll ein Schriftsteller
leben, wenn er nicht publizieren kann!
So konnte erst 1957 „Der letzte Akt“ und 1960
der Schlussband der baltischen Trilogie „Vorfahren und Nachkommen“ erscheinen.
Bereits 1956 wurde Siegfried von Vegesack als ordentliches Mitglied in die
Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gewählt.
Freundschaftliche Verbundenheit mit Werner Bergengruen,
Thomas Mann, Werner Illing, Jakob Job, den Dichterarzt Hans Carossa oder
den Künstlern Reinhold Koeppel und Heinz Theuerjahr, um nur einige zu nennen,
begleitete diese Jahre. 1963 erhielt er den Ostdeutschen Literaturpreis der
Künstlergilde Esslingen verliehen. Seine letzte Südamerikareise brachte als
Frucht eine Art Lebensbilanz im Roman „Die Überfahrt“ hervor. Mit der Zeit
wurde es stiller um Ihn, die alten Freunde waren nicht mehr; am 26. Januar
1974 starb Siegfried von Vegesack im Alter von 86 Jahren. Er hat seine letzte
Ruhestätte in der Nähe seines geliebten Fressenden Hauses in Weißenstein
bei Regen gefunden.
Neben den bereits genannten Büchern veröffentlichte
Vegesack weitere Gedicht- und Prosabände, oft auch den Bayerischen Wald beschreibend,
Reiseberichte, Kinderbücher und Übersetzungen. Vor allem in den fünfziger
und sechziger Jahren arbeitete er viel für den Bayerischen und Süddeutschen
Rundfunk.
© Josef Nickl
Die Freunde der Burganlage Weißenstein e.V. bedanken sich
herzlich bei Herrn Josef Nickl
für die Bereitstellung dieser Ausarbeitung.